Stolpersteine in Neukölln

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Dominik Laupichler
Freier wissenschaftlicher Mitarbeiter und ehemaliger Volontär

Insgesamt zwölf Stolpersteinverlegungen durfte ich während meines Volontariats im Museum Neukölln begleiten und mitverfolgen, wie die Steine an den verschiedensten Ecken des Bezirks in das Straßenpflaster eingelassen wurden. Eine der letzten Verlegungen war dabei – nicht nur für mich, – sondern für den Bezirk Neukölln und das Museum eine besondere. Am 22. Juni 2023 wurden sechs Stolpersteine für Bernhard und Luise-Cäcilia Smedresman sowie ihre vier Kinder Hans, Bernhard, Alfred und Ruth in der Schillerpromenade 23 verlegt – ihrem letzten freiwillig gewählten Wohnort. Die jüdische Familie hatte es geschafft, 1935 nach zunehmender Drangsalierung über Italien nach Palästina zu fliehen. Sie nahmen neue Namen an und bauten sich dort trotz vieler Schicksalsschläge ein neues Leben auf. Die Patin der Steine, Rachel Soost, Enkelin von Bernhard und Luise-Cäcilia, lebt als Einzige aus ihrer Familie in Berlin, ihre Angehörigen nach wie vor in Israel. Eine lange Reise stand also bevor und die logistische Herausforderung, diese mit dem Verlegetermin abzustimmen. Für das Museum Neukölln und auch für mich eine neue, aber auch ehrenwerte Aufgabe, um eine Verlegung mit der gesamten Verwandtschaft zu ermöglichen. In enger Abstimmung mit der Patin haben wir es geschafft, einen Wunschtermin zu finden und so konnte Rachels Familie bei strahlendem Sonnenschein ein Denkmal in Nord-Neukölln gesetzt und eine lange Recherchearbeit zu einem würdigen Abschluss gebracht werden.

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Rachel Soost (2. von links) mit Angehörigen und Freund:innen der Familie bei der Verlegung, Foto: Museum Neukölln / Dominik Laupichler, 22.06.2023

Bevor ich mein Volontariat im Museum Neukölln begann, hatte ich trotz Geschichtsstudium nur am Rande mit Stolpersteinen zu tun. Mir war das von Gunter Demnig 1992 ins Leben gerufene Kunstprojekt für die Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus zwar bekannt, doch wirklich wahrgenommen habe ich die 10 x 10 cm großen Steine erst durch meinen Umzug nach Berlin. Auch eine Ortsfrage, denn in meinem Studienort Oldenburg hat sich die jüdische Gemeinde ähnlich wie in München gegen die Verlegung von Stolpersteinen ausgesprochen, sodass bisher nur insgesamt sieben Stolpersteine im gesamten Stadtgebiet zu finden sind. Kurioserweise war ich bei einer dieser Verlegungen noch relativ unwissend über Demnigs Projekt bereits live dabei – als Kameramann für einen lokalen Fernsehsender.

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Gunter Demnig bei einer Stolpersteinverlegung am 27. März 2015 in Neukölln. Foto: Museum Neukölln / Patrick Helber.

Ein Projekt, viele Pat:innen

Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, wer der Mann mit Hut und rotem Halstuch eigentlich war und welche Tragweite sein Kunstprojekt nicht nur in Deutschland, sondern ganz Europa hat. Mehr als 100 000 Stolpersteine in über 26 europäischen Ländern wurden bisher verlegt. Allein in Berlin sind es 9 894 an der Zahl (Stand: Juni 2022). Gänzlich hat sich mein Blick auf die Stolpersteine verändert bzw. besser gesagt intensiviert, als ich am 1. September 2021 meine Stelle als Volontär im Museum Neukölln antrat. Zusammen mit meiner Kollegin Harriet Merrow wurde uns unter anderem die Aufgabe übertragen, die Verlegung der Stolpersteine im Bezirk Neukölln zu koordinieren. Als Volontär:innen beantworten wir die Anfragen von potenziellen Pat:innen, die sich für die Verlegung eines Stolpersteines interessieren. Ob von einer Initiative, einem Angehörigen oder einer engagierten Einzelperson – jede Anfrage erfordert eine andere Form der Unterstützung.

 

Links: Nathaniel Flakin, ein Pate von mehreren Stolpersteinen in Neukölln, 18.02.2022
Rechts: Jürgen Schulte vor einem Banner der Britzer Initiative „Hufeisern gegen Rechts“, die vorrangig in der Hufeisensiedlung Stolpersteine verlegt. Foto: Museum Neukölln / Dominik Laupichler, 08.09.2022

Organisieren, Unterstützen und Dokumentieren – das Museum Neukölln als Partner beim bürgerschaftlichen Engagement

Wir versorgen Interessierte mit Informationsmaterial und klären über den Ablauf des Projektes auf. Kern des Projektes stellt dabei die eigenständige Recherche durch die Pat:innen dar, die mit Hilfe von verschiedenen Quellen, Archiven und Zeitzeug:innenberichten versuchen, die Biografie einer vom nationalsozialistischen Regime verfolgten Person anzufertigen. Als Museum prüfen wir, ob die Quellen richtig zitiert wurden, geben Tipps für Archive oder andere Anlaufstellen, damit die Pat:innen mehr über das Schicksal der betreffenden Person erfahren können, für die ein Stolperstein verlegt werden soll.

Screenshot Jüdisches Adressbuch: https://digital.zlb.de/viewer/image/34039536_1931_1932/1/LOG_0003/,Zugriff 27.01.2022
Screenshot Berliner Adressbuch: https://digital.zlb.de/viewer/image/34115495_1939/1/, Zugriff 27.01.2022

Der Wert dieser bürgerschaftlich geleisteten Recherchearbeit kann dabei nicht hoch genug bewertet werden. Erst durch die direkte Auseinandersetzung mit dem Schicksal einer verfolgten Person, der intensiven Recherche und das Zusammentragen von teils sehr intimen Informationen aus den Lebensläufen verlieren die Opfer ihre Anonymität – das erlittene Leid bekommt eine biografische Verankerung. Auch uns im Museum Neukölln wird dadurch ein tiefer Einblick in das Leben der Verfolgten gewährt. Durch die Korrespondenz mit den Pat:innen, bei denen es sich nicht selten um Angehörige der Opfer handelt, entsteht bei einer mitunter sehr engen Zusammenarbeit nicht nur ein professionelles, sondern auch persönliches Verhältnis.

Bei den Verlegungen selbst stehen die Schicksale der Opfer im Vordergrund, denn für viele Personen sind die Verlegungen nicht nur ein öffentlicher, sondern häufig ein ganz persönlicher Akt des Andenkens, der sich somit stets individuell gestaltet – sei es im großen oder auch im kleinen Rahmen. Als Volontär:innen begleiten wir die Verlegungen im Hintergrund, stehen für Fragen zur Verfügung und dokumentieren die Veranstaltung für das Museum Neukölln.

 

Fotodokumentation der Stolpersteinverlegung von Fritz Paul Bräuer in der Pflügerstraße 8. Foto: Stephen Hartley, 08.09.2022

Mit Unterstützung unserer Museumslehrer:innen, Silvia Haslauer und Philipp Hefke, begleitet und unterstützt das Museum Neukölln auch pädagogische Projekte – wie beispielsweise die Verlegung von Stolpersteinen durch Schulklassen. So geschehen im Dezember 2021 bei einer Stolpersteinverlegung für Eleonore und Elizabeth „Betzi“ Rosenthal in der Buschkrugallee 250a. Patin war eine Schulklasse der Fritz-Karsen-Schule in Neukölln.

 

Schüler:innen als Pat:innen bei der Stolpersteinverlegung von Eleonore und Elizabeth Rosenthal. Foto: Museum Neukölln / Dominik Laupichler, 20.12.2022

Der alltägliche Gang


Durch die Arbeit mit den Stolpersteinen hat sich zwangsweise mein professioneller, aber auch unweigerlich mein ganz persönlicher Blick auf dieses Projekt zwischen Kunst und Gedenken gewandelt. Ich bleibe häufiger im Stadtraum bei Stolpersteinen stehen, schaue mir dann die Daten der Inschriften genauer an oder recherchiere die Namen auf Stolpersteinen, die mir bei meinen Wegen durch Berlin und Neukölln immer wieder begegnen – beispielsweise Gertrud Seele. Ihr Stolperstein liegt im Straßenpflaster der Parchimer Alle 75. Jedes Mal, wenn ich vom Museum Neukölln zur U-Bahn-Haltestelle Parchimer Allee laufe, komme ich an diesem Stolperstein vorbei. Blieb es bei den ersten paar Malen nur bei einem interessierten Blick auf die Inschrift, musste ich nach mehrmaligen Vorbeilaufen selbst im Museum nachschauen, um mehr über das Schicksal von Gertrud Seele zu erfahren: Aus einer Arbeiterfamilie stammend, schloss Gertrud Seele eine Ausbildung zur Krankenschwester ab. Während des Zweiten Weltkrieges wird sie aufgrund anhaltender Bombenangriffe auf einen Landwirtschaftsbetrieb evakuiert. Bereits zu Schulzeiten machte Gertrud Seele aus ihrer Abneigung gegen den Nationalsozialismus keinen Hehl und äußerte sich auch entsprechend gegenüber Nachbar:innen und Arbeitskolleg:innen. Sie wird denunziert und aufgrund von sogenannter „Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung“ 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 12. Januar 1945 in Plötzensee vollstreckt.

 

Der Stolperstein von Gertrud Seele nach der Verlegung im Straßenpflaster der Parchimer Allee 75. Foto: Bärbel Ruben, 29.11.2012.

Stolpersteine im Stadtraum Neukölln

Sichtbarkeit ist eine der zentralen Herausforderungen in der Erinnerungskultur; das Sichtbarmachen der Menschen, die durch das NS-Regime verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Gerade durch die dauerhafte Präsenz im Stadtbild leisten die Stolpersteine einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmung der Opfer des Nationalsozialismus. Auch in Neukölln steigt die Zahl der Stolpersteine kontinuierlich an. Insgesamt wurden bereits über 240 Steine im Bezirk Neukölln verlegt (Stand Januar 2023). Während sich das Gros der Stolpersteine in Nord-Neukölln verorten lässt, wurden die ersten zwei Stolpersteine im Ortsteil Buckow vom dortigen Heimatverein im Jahr 2022 verlegt.

 

Die beiden Stolpersteine von Konrad und Margarete Ehrlich in Buckow (Alt-Buckow 21). Umringt von Blumen und einem Familienfoto der Ehrlichs. Foto: Museum Neukölln / Dominik Laupichler, 05.04.2022

In der Pflügerstraße 8 erinnert seit dem 8. September der erste Stolperstein in Neukölln an eine Person, die nach dem Paragrafen 175 bzw. 175a verurteilt und ermordet wurde – Fritz Paul Bräuer. Dieses Gesetz stellte seit dem 1. Januar 1872 sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts im Deutschen Reich unter Strafe und wurde in der NS-Zeit weiter verschärft, was zur Verfolgung, Verhaftung, Deportation und Ermordung von mehreren Tausend Homosexuellen führte.

Auseinandersetzen statt nur Erinnern

Nicht jede:r wird durch die Stolpersteine selbst zum Forschen verleitet. Viele Menschen nehmen die Steine möglicherweise gar nicht wahr – oder wenn, dann nur beiläufig. Es sei durchaus die Frage erlaubt, inwiefern Stolpersteine in ihrer Funktion, die Wahrnehmung der Opfer des Nationalsozialismus stärken, noch zeitgemäß sind und inwieweit die Verlegungen nicht bereits zu eher oberflächlichen Ritualen der Selbstvergewisserung geworden sind. Auch das gehört zur Erinnerungskultur dazu: das Diskutieren und Debattieren um die jeweils angemessenen und zeitgemäßen Formen des Erinnerns.

Einzigartig ist in jedem Falle das Konzept der Stolpersteine als größte dezentrale Gedenkinstallation, die uns Erinnerungslücken im Stadtraum sichtbar vor Augen führt. Darüber hinaus bedarf es jedoch auch einer konkreten Auseinandersetzung mit den Schicksalen der Opfer, die über die knapp gehaltenen Informationen der Inschriften hinausgeht. In Form einer selbst unternommenen Recherche mit Hilfe der historischen Archivalien oder der Durchführung von pädagogischen Projekten können die Stolpersteine dazu anregen, mehr Informationen über die Biografien der Opfer des Nationalsozialismus zu vermitteln und dabei auch Anknüpfungspunkte mit der eigenen Biografie oder dem direkten persönlichen Umfeld zu entdecken. Damit entfaltet das von Gunter Demnig entwickelte Stolperstein-Projekt ein Potenzial, um das Gedenken an die Opfer nicht nur als performative Erinnerungskultur zu praktizieren, sondern als eine verinnerlichte und zugleich lebendige Praxis der Erinnerungskultur in die kommenden Generationen weiterzutragen.

PS: 2018 erarbeitete das Museum Neukölln die mobile Ausstellung „Stolpersteine in Neukölln. Erinnerungskultur von unten.“ Das Magazin zur Ausstellung finden Sie hier: https://issuu.com/museumneukolln/docs/stolpersteine_end

Bild 1: Sechs Stolpersteine von Bernhard, Luise-Cäcilia, Hans, Bernhard, Alfred und Ruth Smedresman umrahmt von Blumen und Fotos bei der Verlegung in das Straßenpflaster der Schillerpromenade 23, Foto: Museum Neukölln / Dominik Laupichler, 22.06.2023