Neukölln war, ist und bleibt queer. Aus dem Personenarchiv des Museums Neukölln

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Links: Gerda von Zobeltitz, 1913 auf einem Zeitungsfoto,
aus der Sammlung K. Koblitz
Rechts: Gerd Katter, 1931 im Schmetterlingshorst.
© Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.

Harriet Merrow
Projektassistenz Deutsches Historisches Museum
(zuvor Volontärin im Museum Neukölln)

Heute am 31. März, dem International Transgender Day of Visibility, steht die Sichtbarmachung von Trans- und nicht-binären Menschen im Fokus – in Geschichte und Gegenwart. In meiner Arbeit als wissenschaftliche Volontärin am Museum Neukölln habe ich mich mit dieser Geschichte befasst und zwei spannende Biografien aus Neukölln für unser Personenarchiv recherchiert: Gerda von Zobeltitz (1891-1963) und Gerd Katter (1910-1995).

Der Biografie Gerd Katters konnte ich mit freundlicher kollegialer Unterstützung des Archivs der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft[1] nachspüren: Katter war gebürtiger Britzer, Tischler, später freiwilliger Übersiedler in die junge DDR und dort Sänger – etwa bei eigens organisierten und beliebten Konzertabenden im ‚Klub der Volkssolidarität‘ in Birkenwerder. Zudem war er einer der Menschen, denen Dr. Magnus Hirschfelds[2] Institut für Sexualwissenschaft einen sogenannten ‚Transvestitenschein‘ ausstellte.[3]


Ärztliche Bescheinigung (auch ‚Transvestitenschein‘ genannt) von Gerd Katter für die polizeiliche Erlaubnis zum Tragen von „Kleidung des männlichen Geschlechts“ (23. November 1928)  ©Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft

Ärztliche Bescheinigung (auch ‚Transvestitenschein‘ genannt) von Gerd Katter für die polizeiliche Erlaubnis
zum Tragen von „Kleidung des männlichen Geschlechts“ (23. November 1928)
© Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft

Gerd kam am 14. März 1910 in Berlin-Britz als uneheliches Kind zur Welt und wuchs bis zum dreizehnten Lebensjahr bei der damals alleinerziehenden Hedwig Kofsmann auf, bis diese 1923 den Kaufmann Max Katter heiratete. Gemeinsam zog die Kleinfamilie daraufhin in die neue Ideal-Genossenschaftssiedlung in Britz, in die heutige Rungiusstraße 36H.

Polizeiliche Erlaubnis der Abteilung 4 des Polizeipräsidenten Berlins zum Tragen von „Männerkleidung“ für Gerd Katter (6. Dezember 1928) © Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft

Polizeiliche Erlaubnis der Abteilung 4 des Polizeipräsidenten Berlins zum Tragen von „Männerkleidung“
für Gerd Katter (6. Dezember 1928) © Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft

Mit der Beantragung eines ‚Transvestitenscheins‘ hoffte Gerd, fortan nicht mehr wegen des Tragens von ‚Männerkleidung‘ in rechtliche Schwierigkeiten zu kommen. Dies entsprach zwar der Geschlechtsidentität Gerds, konnte aber zwischen 1872 und 1975 mit  dem Vorwurf des „groben Unfugs“ strafrechtlich verfolgt und bestraft werden.

Deadnames (dt. „tote Namen“) und Respekt

Aufmerksame Leser:innen werden gemerkt haben, dass in den obigen Absätzen jegliche Pronomen fehlen und der Geburtsname nicht genannt wird. Der Grund ist simpel: Ich möchte nur wenn absolut nötig den Geburtsnamen Gerds nennen, da Katter selbst den Namen schließlich abgelegt hat. Die ‚alten‘ oder von Personen vor ihrer Transition verwendeten Namen werden häufig auch deadnames genannt. Die betroffenen Personen haben den alten Namen „abgelegt“ und einen neuen Lebensabschnitt, häufig mit neuem Vornamen, begonnen.

Ausschnitt der beglaubigten Abschrift der Namensänderung Katters in ‚Gerd‘ am 5. Oktober 1929  © Landesarchiv Berlin, P Rep. 370, Nr. 638

Ausschnitt der beglaubigten Abschrift der Namensänderung Katters in ‚Gerd‘ am 5. Oktober 1929
© Landesarchiv Berlin, P Rep. 370, Nr. 638

Im Archiv des Museums Neukölln, dem sogenannten Geschichtsspeicher, werden zahlreiche Dokumente und materielle Zeugnisse von und über Neuköllner Bürger:innen aus der Geschichte und Gegenwart aufbewahrt. Diese Dokumente, Fotos, Zeitungsartikel, Postkarten und viele andere Materialien können interessierten Archivnutzer:innen – Historiker:innen, Lehrer:innen, Studierenden, u.v.m. – für die eigene Forschung, für wissenschaftliche oder auch künstlerische Projekte, bereitgestellt werden.

Im Personenarchiv des Museums befinden sich Originale und Kopien von privaten Dokumenten aus dem Besitz von Neuköllner:innen. Nun konnte das Personenarchiv um die Namen Katter und von Zobeltitz erweitert werden. In diesen beiden Personenmappen sind besondere Verweise auf den respektvollen Umgang mit den Personen enthalten, die etwa für den Umgang mit ‚toten Namen‘ sensibilisieren sollen.

Der sogenannte Geschichtsspeicher des Museums © Florian von Ploetz

Der sogenannte Geschichtsspeicher des Museums © Florian von Ploetz

Gerda: Gebürtige Rixdorferin, Wahl-Weißenseeerin

Gerda von Zobeltitz‘ Leben ist zu einem großen Teil bereits von der Privatsammlerin und Leiterin des Spinnboden Lesbenarchivs e.V., Katja Koblitz, erforscht worden.[4] Von Zobeltitz wurde am 9. Juni 1891 in der Schinkestraße 15 (heute Maybachufer 13) geboren.
 

Ausschnitt des Eintrags im Geburtenregister Rixdorfs aus dem Jahr 1891 über G. von Zobeltitz‘ Geburt  © Landesarchiv Berlin, P Rep. 350, Nr. 52

Ausschnitt des Eintrags im Geburtenregister Rixdorfs aus
dem Jahr 1891 über G. von Zobeltitz‘ Geburt
© Landesarchiv Berlin, P Rep. 350, Nr. 52

Aus Koblitz‘ Forschung wird ersichtlich, dass der Lebensweg Gerdas schnell aus Rixdorf hinaus und nach Berlin-Weißensee führt. Dort lebte sie (auch nach dem Tod des Vaters 1921) mit ihrer Familie bis nach dem Zweiten Weltkrieg und arbeitete unter anderem als Damenschneiderin mit Werkstatt im selben Haus.

Gerda scheint, diversen überlieferten Anekdoten nach, ein überaus mutiger und im besten Sinne des Wortes aufmüpfiger Mensch gewesen zu sein. Nachdem ihr im März 1913 die amtliche Genehmigung zum Tragen von Frauenkleidern erteilt wurde, folgte ein Medienecho, das Gerda in die öffentliche Wahrnehmung beförderte. Nachdem sie 1913[5] im Kleid zum Musterungstermin für den Militärdienst erschien, wurde abermals in der Presse darüber berichtet. Anderen Presseberichten zufolge erschien sie 1916 in Frauenkleidung zu ihrer standesamtlichen Hochzeit.[6]


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Beschreibung einer „eigenartigen Vermählung“ von G. von Zobeltitz in Weißensee, abgedruckt in der österreichischen ‚Illustrierten Kronenzeitung‘
vom 7. September 1916 © Österreichische Nationalbibliothek

„Symbolic annihilation“ und das Füllen von Leerstellen im Archiv

Das Innehalten im Museumsalltag, um auf die blinden Flecke einer Sammlung oder eines Personenarchivs zu achten, ist heute eine wichtige Praxis. Diese Leerstellen betreffen fraglos die Repräsentation vieler Individuen und Gruppen. Das liegt mitunter daran, wie die Sammlung gewachsen ist und welche Schwerpunkte Museumsmitarbeiter:innen in den vorangegangenen 126 Jahren seit Gründung des damaligen Naturhistorischen Schulmuseums Rixdorfs gesetzt haben. Heute ist es uns wichtig, solche Abwesenheiten sichtbar zu machen — auch, um sogenannte „symbolic annihilation" (dt. „symbolische Ausradierung“) zu bekämpfen. Dieser aus den Medienwissenschaften entlehnte Begriff, mit dem ursprünglich ab den 1970er-Jahren die fehlende mediale Repräsentation von nicht-männlichen Lebensrealitäten beschrieben wurde, wird heute auch in der Archivwissenschaft verwendet.

Beim Konzept der „symbolischen Ausradierung“ im Archiv spielt nicht nur die fehlende Repräsentation, sondern auch die Fehlrepräsentation eine entscheidende Rolle, weshalb an dieser Stelle – auch im Sinne der Beteiligung von Bürger:innen – gerne nochmals auf die Nutzungsmöglichkeiten des Geschichtsspeichers durch unsere Besucher:innen hingewiesen sei. Mir ist zum Beispiel bewusst, dass ich als cis-Frau[7]  aus einer bestimmten Perspektive spreche und Geschichte interpretiere. Wer Informationen, Dokumente oder Objekte mit Neukölln-Bezug besitzt, die Einzelpersonen, Gruppierungen oder Orte der LGBTQIA+ Community beleuchten, ist herzlich eingeladen, mit dem Museum Neukölln in einen Dialog zu treten. So werden  diese Geschichten – historische wie auch zeitgenössische – sichtbar, und wir tragen gemeinsam zur Awareness und Akzeptanz bei.

Findmittel im Geschichtsspeicher des Museums Neukölln

Die Aufnahme dieser zwei Biografien in das Personenarchiv des Museums ist ein erster Schritt, der ohne die Vorarbeit von zahlreichen Archivar:innen und Historiker:innen, die sich dieser Geschichte schon lange widmen und viel Zeit und Mühe investiert haben, nicht möglich gewesen wäre.

Genauso können Privatpersonen einer solchen Erinnerungsarbeit nachgehen: Gerd Katter hat persönlich, und das noch in einem hohen Alter, die Erinnerung an das Wirken Magnus Hirschfelds in Institutionen und Archiven eingefordert.[8]

Mit diesem Beitrag anlässlich des diesjährigen International Transgender Day of Visibility am 31. März möchte das Museum Neukölln an ihn und Gerda Zoebelitz erinneren  als Neuköller:innen, als Familienmenschen, als Künstler:innen und auch als Trans-Personen mit großem Einfluss.


[1] Über einen sehr langen Zeitraum hielt Gerd Katter Briefkontakt mit dem Mitgründer der Magnus-Hirschfeld Gesellschaft, Ralf Dose, und hinterließ dem Archiv der MHG zahlreiche Dokumente, die sein eigenes Leben und seine Verbindung zu Magnus Hirschfeld und dem Institut für Sexualforschung betreffen. Näheres über www.magnus-hirschfeld.de  


[2] Der Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft Dr. Magnus Hirschfeld war Arzt, Autor und Aktivist, der sich Zeit seines Lebens für die Abschaffung des §175 (Kriminalisierung männlicher gleichgeschlechtlicher Liebe) einsetzte. In dem von ihm geleiteten Institut beriet, behandelte und beforschte er in würdevollem Umgang Personen jedweder sexuellen Orientierung und geschlechtlicher Identität.

[3] Vgl. Dittrich, Samson: Gerd Katter (1910-1995) – Trans-Mann, Patient und Lobbyist. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Nr. 64, Februar 2020: 18-25.

[4] Vgl. Koblitz, Katja (2009): „In ihm hat die Natur das berühmte dritte Geschlecht geschaffen“. Gerda von Zobeltitz, ein Transvestit aus Weißensee. In: Sonntags-Club (Hrsg.): Verzaubert in Nord- Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee. Berlin: Bruno Gmünder: 58-80.

[5] Koblitz bezweifelt im 2009 erschienenen, oben zitierten Text diese Datierung.

[6] Obwohl von dieser Eheschließung mehrfach in der Presse berichtet wurde, ist neben G. von Zobeltitz’ zwei Eheschließungen in 1921 und 1944, die auf der im Landesarchiv Berlin aufbewahrten Personenstandsurkunde vermerkt sind, keine weitere Ehe aufgezeichnet.

[7] Der Begriff „cisgender“ (auch „cis“) bedeutet, dass man sich mit dem Geschlecht identifiziert, das einem bei der Geburt zugeschrieben wurde.

[8] Vgl. Dittrich, Samson: Gerd Katter (1910-1995) – Trans-Mann, Patient und Lobbyist. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Nr. 64, Februar 2020: 24-25.