Erinnern heißt: Handeln im vollen Bewusstsein der historischen Verantwortung

Dr. Matthias Henkel
Fachbereichsleiter Museum | Stadtgeschichte | Erinnerungskultur
Museum Neukölln

Aus Anlass des internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2023 hat die Bezirksstadträtin Karin Korte das Konzept des künftigen Lern- und Gedenklabors in der Clay-Schule in Berlin-Rudow im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt:

„Kann man auf einem Grundstück, auf dem einst ein Zwangsarbeiterlager gestanden hat, heute eine neue Schule bauen? In Rudow hat der Bezirk Neukölln diese Frage mit einem klaren: Ja, aber... beantwortet: Ja, aber nur dann, wenn wir diese historische Verantwortung, zu der uns dieser Ort verpflichtet, zugleich als Chance zur Vergegenwärtigung und Vermittlung nutzen.“

(Bezirksstadträtin Karin Korte bei Ihrer einführenden Rede im Rohbau der Clay-Schule)

(Bezirksstadträtin Karin Korte bei Ihrer einführenden Rede im Rohbau der Clay-Schule, Foto: Dr. Matthias Henkel)

 

78 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau wird schmerzlich bewusst, dass wir einen wesentlichen Anker unserer bisherigen Erinnerungskultur verlieren: nur sehr wenige, hochbetagte Menschen, die ein lebendiges Zeugnis dieser Greul aus eigener Anschauung, eigenem Erleiden haben vermitteln können, weilen noch unter uns. Diese Tatsache hat auch Auswirkungen auf die operative Arbeit für eine zukunftsgewandte Erinnerungskultur für Neukölln.

„Dies ist ein Ort, an dem wir gedenken wollen – zugleich aber wird dies auch ein Ort werden, an dem künftig immer wieder neu über das Erinnern und Gedenken nachgedacht werden wird,“ so Karin Korte.

Auf diese Weise erwächst aus dem auf die Vergangenheit fokussierten Erinnern ein auf die Zukunft ausgerichtetes Verantworten; aus dem Neubau der Clay-Schule wird zugleich ein Labor des Erinnerns. Diese wichtige Arbeit der Transformation sind wir nicht nur den Opfern schuldig. Es ist auch der Tribut, den wir diesem historischen Ort schulden.

Lassen wir Kazimiera K., eine der polnischen Zwangsarbeiterinnen, die hier arbeiten mussten, zu Wort kommen:

„Das hat uns so erschöpft, die Unterernährung, der Hunger, der Dreck; Die Deutschen, die uns gequält haben. Die schwere Arbeit, die über alle Kräfte ging. Ich war ein junges Mädchen von achtzehn Jahren; ich musste 150-200 Kilogramm schleppen – jeden Tag, zweieinhalb Jahre lang… Ich weiß nicht, wie wir das überlebt haben. Mädchen sind gestorben. Die Fabrik brannte zweimal, wurde völlig zerstört. Ich weiß nicht, wie wir da leben konnten. Vielleicht nur deshalb, weil man sich als junger Mensch diese Dinge nicht bewusst gemacht hat...“

(Quelle: Kazimiera K., Interview za209, 27.05.2005, Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“, https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de/de/interviews/za209)

Aussagen wie diese machen deutlich, dass wir eine bleibende, historisch verankerte Verantwortung haben.  

Deshalb soll dieser Ort künftig ein Ort der Begegnung werden: Nicht nur, weil sich der Lernort  mitten im Haupteingang zu einer Schule mit über 1.000 Schüler:innen befinden wird; nicht nur, weil gegenüber die Mensa der Schule sein wird; sondern auch, weil in diesem entstehenden Lern- und Gedenklabor die Schüler:innen eine Begegnung mit der Vergangenheit erleben werden. Abgestimmt auf den Lehrplan werden hier in nächster Zeit Lernmodule entwickelt, die auf die Fragestellungen der jeweiligen Jahrgangsstufe abgestimmt sind. Schon jetzt, in der Bauphase, ist dieses Labor ein Ort der Begegnung: denn die Schüler:innen der Clay-Schule sind bereits in der Entwicklungsphase in die Konzeption aktiv eingebunden.

Warum gehen wir so vor? Weil es gilt, die Brücken zu schlagen zwischen den authentischen Berichten der ehemaligen Zwangsarbeiter:innen, die hier unter erbärmlichsten Bedingungen haben schuften müssen, und der Lebenswelt der heutigen Schüler:innen-Generation. Das ist genau die Transformation, die wir in unserer Zeit benötigen, um ein lebendiges Verantwortungsgefühl für das Erinnern gemeinsam entwickeln zu können.

Diese Kooperation zwischen der Clay-Schule und dem Fachbereich Museum, Stadtgeschichte, Erinnerungskultur ist als langfristiges, lernendes Projekt angelegt: Wir werden nicht nur während der Konzeptionsphase miteinander arbeiten, sondern auch den laufenden Betrieb des Lern- und Gedenklabors konzeptionell gemeinsam gestalten. Damit betreten wird – ganz bewusst – Neuland in der Zusammenarbeit zwischen zwei wichtigen Bildungsinstitutionen: der Clay-Schule und dem Museum Neukölln. Wir hoffen, damit genau das einlösen zu können, was Bezirksbürgermeister Martin Hikel in der zum Anlass herausgegebenen Pressemitteilung des Bezirks Neukölln als „Leitprojekt von Schule und Museum“ benannt hat.

(Schüler:innen und Karin Korte im Gespräch mit den Gästen der Veranstaltung, Foto: Dr. Matthias Henkel)

Zu Beginn der Veranstaltung im Rohbau der Clay-Schule bildeten sich kleine Gesprächskreise, in denen die Schüler:innen im Dialog mit den anwesenden Gästen darüber berichteten, mit welcher ganz persönlichen Motivation sie sich in der bereits gegründeten „Museums-AG“ engagieren.

(Schüler:innen im Gespräch mit den Gästen der Veranstaltung, Foto: Dr. Matthias Henkel)

 

Im Anschluss an die Einführungsrede von Bezirksstadträtin Karin Korte erläuterten Thorsten Grusche-Schäfer, der Direktor der Clay-Schule, und Dr. Matthias Henkel, der Leiter des Fachbereichs Museum, Stadtgeschichte, Erinnerungskultur, im Dialog das Grundkonzept des Gedenklabors.

(Thorsten Grusche-Schäfer, der Direktor der Clay-Schule,
und Dr. Matthias Henkel, der Leiter des Fachbereichs Museum, Stadtgeschichte, im Dialog, Foto: Dominik Laupichler)

 

P.S.

Wenn keine Probleme in der Lieferkette auftreten, darf mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass im Verlauf des Jahres 2023 das Lern- und Gedenklabor seinen Probebetrieb aufnehmen kann.

Zum Ort:

Die neue Clay-Schule ist die größte Investition des Bezirks Neukölln für einen Schulbau. 1.100 Schüler:innen der Integrierten Sekundarschule werden hier künftig im gebundenen Ganztag lernen. Ein großzügiges und weitläufiges Sport- und Außengelände ergänzt das Schulgebäude ebenso wie die große Doppelsporthalle auf zwei Etagen mit fünf Hallenteilen.

Der neue Schulstandort entsteht jedoch auf einem historisch belasteten Ort, der von Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des NS-Regimes Zeugnis ablegt. Hier entstanden in mehreren Bauphasen zwischen 1941 und 1943 drei eingezäunte Lager, in denen bis Kriegsende zeitlich überlagert, tausende Kriegsgefangene und Zwangsarbeitende gefangen gehalten wurden, die als Arbeitssklaven für verschiedene Firmen der benachbarten Rüstungsindustrie ausgebeutet wurden. In den Jahren 2014-2016 fanden im Auftrag des Landesdenkmalamtes umfangreiche archäologische Grabungen auf dem Gelände statt, in denen zahlreiche Befunde aus der Lagerzeit gesichert werden konnten. Schüler:innen der Clay-Schule beschäftigten sich in Projektwochen mit dem Thema der NS-Zwangsarbeit und durften unter fachkundiger Anleitung temporär ebenfalls an den Grabungen teilnehmen.

 

Zum Hintergrund:

Seit dem Jahr 2005 wird – auf Initiative der Vereinten Nationen – das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus mit dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 verknüpft. Mit der Gründung des Fachbereichs Museum Stadtgeschichte, Erinnerungskultur im Bezirksamt Neukölln im Jahr 2022 nimmt das Themenfeld Erinnerungskultur eine neue Bedeutung bei der Entwicklung der bezirklichen Identität ein.

 

Autor: Dr. Matthias Henkel