DENK MAL JAHN

JAHN MUSS WEG!
MUSS JAHN WEG?
DENK MAL JAHN

Warum brauchen wir
eine kritische Erinnerungskultur
für die Entwicklung unserer Zukunft

 

Um was geht es?

Es geht nicht um DAS Jahn-Denkmal
Es geht um EIN Jahn-Denkmal.

Um genau zu sein: Es geht um 329stel… Denn 328 andere Jahn-Denkmale stehen in Deutschland und der Welt.

In Berlin gibt es:

  • Einen Jahnplatz
  • Zwei Jahn-Sportplätze
  • Zwei Jahnstraßen
  • Und eine Jahn-Halbfigur im Wandfries des Hauses Hasenheide 19
  • bundesweit gibt übrigens 1.856 Jahn-Straßen[1]

nur zum Vergleich: Goethe bringt es auf 2.053 Straßen in Deutschland.

Gerade dieser Tage hat Aleida Assmann auf dem Berliner Literaturfestival davon gesprochen, dass wir eine „Re-Education“ brauchen, um den wahren Wert unserer Demokratie neu zu verstehen. Es braucht – so Assmann – eine neue Dimension von politischer Bildung.

Wenn man so will, braucht es heute mutige demokratische Vorturner:innen, die ihre demokratisch-menschlich-nachhaltige Position wirklich glaubhaft vertreten und umsetzen.

Denn, die Gefahr der Selbstabschaffung der Demokratie ist – so Assmann – vorhanden; Hass, Misstrauen und Einsamkeit sind die Ingredienzen des Totalitarismus.

  • JAHN provoziert
  • JAHN schockiert
  • Die eigentliche Frage aber ist:

Ist JAHN für uns heute noch von Relevanz?

Es geht uns um bi-direktionales Erinnern bzw. Imaginieren:

d. h.

  • Rückschauen auf die Vergangenheit
  • gepaart mit einer Vorausschau auf unsere Zukünfte.

Denn:

unsere Gegenwart ist eingebettet in das Gestern – und wird zugleich das Gefäß unserer Zukünfte bilden.   

Als Fachbereich Museum | Stadtgeschichte | Erinnerungskultur geht es uns um die Entwicklung eines kritisch-konstruktiven Ansatzes für eine zukunftsgewandte Erinnerungskultur – für und in dem Bezirk Neukölln.

So ist zu erklären, dass wir aus dem „Jahn muss weg!“ den ebenfalls imperativisch wirkenden Satz DENK MAL JAHN entwickelt haben – allerdings ohne ein strenges Ausrufezeichen.

Gleichwohl:

Wir nehmen die von uns formulierte Aufforderung – des Nach- und Vorausdenkens – selbst ernst.

Gleich in zwei Ausstellungsprojekten hintereinander befassen wir uns mit historischen Relikten aus dem Neuköllner Stadtraum. Das kommt der von uns formulierten Vision – den Stadtraum als begehbares Exponat zu verstehen – gut zupass.

Bei BURIED MEMORIES bestand unser „MOVE“ in der Kooperation mit einer namibischen Künstlerin.

Bei JAHN liegt der Fall anders …  

JAHN hat – zumindest für damalige Verhältnisse – nicht nur lang gelebt, sondern er hat insbesondere ein ausgesprochen langes und vielschichtiges NACHLEBEN.

Als Archäologe möchte ich es so formulieren: Um in die eigentliche JAHN-Zeit vorzustoßen, müssen wir eine komplexe Stratigraphie der nachträglichen JAHN-Zeiten der Instrumentalisierungen und Fokussierungen abtragen.

Und: Wir dürfen JAHN nicht auf den „Turnvater“ reduzieren. Denn die ertüchtigende Bewegung war für JAHN nicht Selbstzweck. JAHN war nicht, was wir heute einen Personal Trainer nennen würden. Die Anleitung zum Turnen war für ihn nur MITTEL zu einem höheren ZWECK – zur Ertüchtigung von Körper, Seele und Geist hin zur „Kriegstauglichkeit“.

Während unser amtierender Bundesverteidigungsminister dieses Wort

  • aus der Perspektive der Abwehr versteht,
  • verstand es JAHN aus der Perspektive des ANGRIFFS – des Angriffs auf den Feind: die Franzosen ...

JAHN selbst ging es um eine vermeintlich mögliche Reinheit einer Nation, die er heiß ersehnte, die er – herbeiturnen wollte – die er aber selbst in seinem Leben nicht mehr erleben sollte.

Den Nationalsozialisten hingegen ging es in ihrer „kumulativen Radikalisierung“ (ich zitiere Hans Mommsen) nicht allein um eine Ideologie der Rasse, sondern um einen physischen Rassenhass, der – wie wir alle wissen – im Fanal des nicht zu vergleichenden Völkermords endete.

  • Es geht bei der Rezeption von JAHN – um es mit Goethes Faust zu sagen – um des „Pudels Kern“:

Verwandelt sich JAHN bei genauerer Betrachtung in den Satan in Person – Verzeihung – Mephisto?

oder

  • Ist JAHN doch nur ein dahergelaufener Straßenköter – Verzeihung – Pudel?

Auch seine eigenen Zeitgenoss:innen waren sich, was die Beantwortung dieser Frage betrifft, durchaus nicht einig. Aus der zeitlichen Distanz heraus wird manches vielleicht klarer.

Aber: Wir können die Handlungs- und Denkweisen von Menschen nur aus ihrem eigenen zeitlichen und sozial-räumlichen Kontext heraus verstehen ...

Und: Verstehen, heißt lange noch nicht goutieren!

Um was geht es uns? In erster Linie geht es uns um Klärung und Aufklärung!

Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), bekannt als Turnvater Jahn, gilt als Begründer der deutschen Turnbewegung und war eine der prägenden Figuren des deutschen Nationalismus Anfang des 19. Jahrhunderts.

  • Seine Ideen und sein Wirken hatten vielfältige Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft und sind bis heute Gegenstand kontroverser Diskussionen.
  • Die Neuköllner Hasenheide ging als historischer Ort des ersten deutschen öffentlichen Turnplatzes in die Geschichte ein.
  • 1872 wurde dort das Denkmal für Jahn eingeweiht.
  • Nun stellt ein Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung aus dem Jahr 2023 dieses Denkmal sehr grundsätzlich in Frage.

Bereits im Jahr 2011 erarbeitete das Museum Neukölln die Ausstellung „200 Jahre Turnplatz Hasenheide“. Darauf aufbauend haben wir nun mit DENK MAL JAHN neue Fragestellungen und Quellen berücksichtigt:

Als Zeitgenoss:innen des 21. Jahrhunderts
nehmen wir mit den Mitteln der historisch-kritischen Quellenanalyse
Friedrich Ludwig Jahn
erneut in den Blick.

Jahn war ein Kind seiner Zeit – seine Ideen zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie ethischen Fragen sollten daher im zeithistorischen Kontext des frühen 19. Jahrhunderts gesehen werden.

Für eine Betrachtung aus heutiger Sicht müssen wir darüber hinaus die in den jeweiligen Zeitepochen erfolgten Überschreibungen, Aneignungen und Instrumentalisierungen in den Blick nehmen.

Das Denkmal – die Skulptur und der Sockel

Wir nehmen auch die materielle und konzeptionelle Dimension des Denkmals selbst in den Blick.

  • Die im Sockel verarbeiteten Steine stellen „ein Denkmal im Denkmal“ dar. Damit weist das Jahn-Denkmal in der Hasenheide in dieser Dimension ein bis heute faszinierendes Alleinstellungsmerkmal auf. In einem partizipativen Prozess, an dem sich mehr als 600 deutsche Turnvereine beteiligten. Hinzu kamen etwa 20 Turnvereine, die von Deutschen in aller Welt gegründet wurden. Aus ihren Herkunftsländern schickten die Turner Steine für das Denkmal nach Berlin. Diese weisen damit einen zusätzlichen geschichtlichen Erinnerungswert auf. Bearbeitet und mit Inschriften versehen, transportierte man sie unter hohem finanziellen und logistischem Aufwand nach Berlin. Die Turner wollten mit diesen Erinnerungssteinen Jahn auf besondere Weise ehren.

Die symbolhafte Vereinigung der Turner nahm so gewissermaßen die von Jahn angestrebte nationalstaatliche Einigung vorweg.

Das Jahn-Denkmal wurde in der Zeit des Nationalsozialismus nach hinten versetzt und mit einer halb-ovalen Sockelgestaltung versehen. Vor dem Denkmal wurde auf diese Weise ein Aufmarschplatz angelegt. Die Neueinweihung fand im Rahmen der Olympischen Spiele, anlässlich des Geburtstags von Jahn am 11. August 1936, statt – kein Wunder: Die Jahnschen Denkfiguren ließen sich von den Nationalsozialisten leicht ausdeuten und ausbeuten.

 Jahn-Zeit(en)

In unserer Ausstellung werden keine Objekte gezeigt, stattdessen spüren wir mit Hilfe zeitgenössischer Zitate den Geist der Jahn-Zeit auf. Dies ist kein leichtes Unterfangen, denn schon zu seinen Lebzeiten scheint Jahn in mancher Hinsicht aus der Zeit gefallen zu sein – mit einer paradoxen Anmutung von fortschrittlicher Gestrigkeit. Die Jahn-Zeit ist von einer ausgesprochenen Dynamik geprägt, wenn wir die sozio-ökonomischen und politischen Verhältnisse betrachten:

Nur exemplarisch genannt seien

  • die Französische Revolution von 1789,
  • die Besetzung der deutschen Lande durch Frankreich,
  • die ab etwa 1835 in Deutschland einsetzende Industrialisierung
  • und die 1848/49er Revolution im Deutschen Bund als Bewegung der nationalen Einheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen.

Stimmen über Jahn

Wenn wir im Zusammenhang mit der Betrachtung von Jahn von Überschreibungen, Aneignungen und Instrumentalisierungen sprechen, dann hat das mit den wechselvollen historischen Epochen zu tun, die zwischen seiner Lebenszeit an der Wende vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und unserer Gegenwart liegen.

Deutlich wird, dass jede dieser Epochen ihren eigenen Jahn geschaffen hat – durch das Mittel der pointierten Fokussierung, der absichtsvollen Unterschlagung oder bewussten Heroisierung.

Dieses Phänomen der jeweils zeitgenössischen Aneignung fällt im Falle von Jahn insofern besonders leicht, weil er sich in geradezu eklektizistischem Eifer mit einer Vielzahl von Themenfeldern befasst hat. Auf diese Weise konnte er auch als Gewährsperson in verschiedenen Zeitabschnitten in ebenso vielfältigen Themenfeldern instrumentalisiert werden.

Wir haben also Stimmen über Jahn gesammelt und bieten diese zum Nachlesen an, von Sportfunktionären, Politikern, Journalisten und Aktivist:innen.

Kritisches Erinnern

Das Wissenschaftsjahr 2024 trägt den Titel:

„Von der Geschichte lernen:
Warum wir eine kritische Erinnerungskultur
für unsere Zukunft brauchen“
.[2]

Dieses Motto verstehen wir als konzeptionellen Untertitel unserer Ausstellung.

Ganz im Sinne des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire geht es uns darum, einen produktiven Beitrag zur kritischen Erinnerung an Friedrich Ludwig Jahn zu leisten:[3]

  • Freire formuliert es in seiner Ich-Aussage folgendermaßen:
  • „radikal offen zu sein, sich selbst, anderen und der Welt gegenüber.
  • Offen zu sein gegenüber dem anderen und gegenüber der Welt als solcher

und sich dabei auf radikale Weise als kulturelles und historisches Wesen zu erfahren, unvollkommen und meiner Unvollkommenheit bewusst.“[4]

Mit der Ausstellung nähern wir uns also dem Phänomen Jahn – ohne Sympathie – aber mit einem polyperspektivischen Interesse – gewissermaßen mit einem ethnologischen Blick. Wie sich zeigt, hat seit der ursprünglichen Einweihung des Denkmals, jede Epoche ihre Spuren am Denkmal hinterlassen. Die besondere Herausforderung besteht jetzt darin, in zweierlei Hinsicht einen zeitgemäßen Umgang zu entwickeln:

  • einerseits mit dem Denkmal Jahn in seiner materiellen Beschaffenheit
  • andererseits mit dem zeitgeschichtlichen Phänomen Jahn;

es geht uns
um eine erinnerungskulturelle Transformation
ins 21. Jahrhundert.

Zur Szenographie unserer Ausstellung.

Aus den ironisch-pink-farbigen Sockeln des Projektes „Falling Monuments“ aus dem Fachbereich Kultur haben wir postdramatische Postamente gemacht, die uns – scheinbar aus Marmor – als Sockel zur Inszenierung der Zitate dienen. Mein besonderer Dank gilt hier Zsolt Vasarhelyi. Aber: damit ist unser kulturelles Upcycling noch nicht beendet.

Die Mobile Ausstellung aus dem Jahr 2011 zum Jubiläum „200 Jahre Turnplatz Hasenheide“ dient uns als faktisches Framing unserer sinnlich aufbereiteten Argumentation und Inszenierung.

 Man muss – bei Leibe – JAHN nicht mögen.

Aber, wir benötigen – in Analogie zur Akupunktur – Reizpunkte, an denen wir uns produktiv mit unserer Geschichte auseinandersetzen,

  • um eine aufgeklärte, eigene Position – basierend auf Fakten – überhaupt entwickeln zu können.

Und, dies sei mir aus aktuellem Anlass gestattet …

Was – aus einer aufgeklärten erinnerungskulturellen Perspektive – für in Bronze gegossene Skulpturen, die auf einem Steinsockel stehen, gilt, das gilt in gleicher Weise für Findlinge auf Friedhöfen.

Das heißt ganz und gar nicht,

  • dass die Relikte aus unseren Vergangenheiten einen Anspruch auf Unveränderlichkeit hätten … ganz im Gegenteil!
  • Es bedarf geradezu einer zeitgenössischen Kommentierung, Kontextualisierung, einer Transformation.

Denkmale sind eben DENK Male

  • Sie fordern zum Nach- und Vorausdenken auf;
  • sind sinnliche Orte des Geschichtserlebens
  • und sei es, dass wir uns mit Schrecken von ihnen abwenden.

Wir müssen JAHN nicht verehren – oder gar lieben

Wir müssen viel mehr mit dem JAHN in uns umgehen…

Was soll das heißen?

  • Wie stehen wir zum Thema Nation – und Europa?
  • Wie stellen wir uns ein demokratisches gleichberechtigtes Verhältnis aller Geschlechter miteinander vor?
  • Wie gehen wir mit anderen Menschen – dem „Fremden“ – oder mit dem in mir Fremden selbst um?

Das sind Fragen,
die uns bewegen sollten,
bevor wir zum Mittel des Ikonoklasmus greifen.

 Die wohl einfachste Form der Transformation
wäre es, die eigene Sicht auf das Denk-Mal zu verändern

  • nämlich das Denk-Mal von 1872
  • als Mahn-Mal des Jahres 2024 zu verstehen …

und dies vor Ort in geeigneter Form zu kontextualisieren.

…. Die Vergangenheit ist NICHT vorbei – sie lässt sich auch NICHT löschen.

Dank

Ausstellungen sind stets ein Ergebnis von Teamarbeit – sie entstehen im Dialog. Vor diesem Hintergrund danke ich insbesondere unseren externen Partner:innen, die das Projekt durch mannigfaltige Unterstützungen ermöglicht haben:

 

  • antifaschistisches pressearchiv und bildungszentrum berlin e. V. namentlich Herrn Kilian Behrens
  • Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft e. V.
  • Friedemann Encke (Ur-Enkel des Bildhauers Erdmann Encke)
  • Claudia von Gélieu und das Netzwerk Frauen in Neukölln
  • Stephanie Kaps, Landessportbund Thüringen e. V.
  • Dr. Jörg Löhrke, Straßen- und Grünflächenamt Neukölln, Landschafts- und Freiraumplanung
  • Manfred Nippe – der Jahn-Kenner – vom Landessportbund Berlin
  • Dr. Dorothea Hokema – Kollegin aus dem Grünflächenamt
  • Andreas Seide von der Dorfkirchengemeinde Britz
  • Turn und Sportverein 1865 Herr Jörg Steinbrück
  • Lia Bach und Lea Meister vom Projekt Falling Monuments

 Für die Kärrnerarbeit der historischen Recherchen, die Analysen und die textliche Fassung danke ich herzlich

  • Lisa Hirsch,
  • Anika Birker
  • und Bärbel Ruben.

Nicht nur für die lektorierenden Blicke, sondern auch für ein präzises Projektmanagement ist Julia Dilger herzlich zu danken.

Gemeinsam mit Claudia Bachmann haben wir für unsere Argumentation das passende Raumbild entwickelt – das äußere Erscheinungsbild steuerten diehingucker bei.

Andreas Ernst sorgte – wie stets – für die korrekte Beauftragungen und Paulo Sudardjono war als Praktikant eine wirklich vielseitig-hilfreiche Hand.

Nun also liegt die Ausstellung in den Händen unseres Teams der Besucherbetreuung und natürlich auch unserer beiden Museumslehrer.

There is one more thing (würde Steve Jobs gesagt haben)

Liebe Frau Korte,

es war mir und uns eine große Freude und Ehre mit und für Sie - und für die Neuköllner Erinnerungskultur arbeiten zu dürfen.

Eine Bitte haben wir noch:

Bleiben Sie uns,
dem Museum
Neukölln und dem von Ihnen initiierten
Fachbereich Museum | Stadtgeschichte | Erinnerungskultur
auch weiterhin
im Herzen verbunden.

 


[3] Arnd Krüger: „Die sieben Arten in Vergessenheit zu geraten“, In: Arnd Krüger, Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Vergessen, Verdrängt, Abgelehnt. Zur Geschichte der Ausgrenzung im Sport. (= Schriftenreihe des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte Hoya. Band 21). Münster 2009, 4-16.

[4] Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur (Hg.): Paulo Freire, Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis (übersetzt von Ivo Tamm), Münster 2008, 47.