#ErinnerungsLaborClayschule

Der Kosmos des Erinnerns

Dr. Matthias Henkel
(Rede aus Anlass der Inbetriebnahme des Lern- und Gedenklabors zur NS-Zwangsarbeit in Rudow
in der Clay-Schule, einer Dependance des Museums Neukölln am 24. April 2024)


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Foto © MSE / MH

Geschichtsdidaktik im Zeitalter alternativer Fakten

Wir leben in grenzwertigen Zeiten: Beim Blick in die Tageszeitung oder beim Scrollen durch den TikTok- oder INSTA-Stream hat man mitunter den Eindruck, dass die Welt am Abgrund steht: Die Grenzen des Sagbaren liegen in einem Wettbewerb mit dem, was gesagt werden muss. Unser Blick auf die vermeintlich unveränderliche Geschichte scheint dabei mitunter ins Wanken zu geraten. In den von Globalisierung und Migration gekennzeichneten Zeiten stellt es sich als herausfordernd dar, die Fundamentreste des kollektiven Gedächtnisses aufzuspüren.

Eigentlich gründet unser Geschichtsverständnis auf soliden Fakten. Seit dem 22. Januar 2017 aber haben wir es nicht nur mit Fake News zu tun, sondern auch mit „Alternativen Fakten“; Kellyanne Conway – der Beraterin des ehemaligen US-Präsidenten Trump – haben wir das zu verdanken.[1] Diesem Umstand müssen wir in der geschichtsdidaktischen und erinnerungskulturellen Arbeit dadurch Rechnung tragen, dass wir die Schülerinnen und Schüler im quellenkritischen Umgang mit (historischen) Quellen schulen.

Aber selbst seitdem hat die Geschwindigkeit der Einflussfaktoren, die auf unser Geschichtsverständnis einwirken, noch erheblich an Fahrt aufgenommen: Zum 9. November 2023 habe ich an dieser Stelle [in der Clay-Schule] – anlässlich einer Gedenkveranstaltung der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) zur 85sten Wiederkehr der Reichspogromnacht von 1938 – aus einem Gedicht von Erich Fried zitiert; inzwischen gehe ich davon aus, dass ChatGPT dieses Gedicht halluziniert – das heißt, die Diktion von Erich Fried nutzend – frei erfunden hat. Eines ist sicher: Es wird im Zeitalter der Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas) immer schwieriger, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Wie aber schaffen wir es, ein demokratisch grundiertes, faktenbasiertes Grundverständnis – wenn man so will – ein europäisches Master-Narrativ zur Vergangenheit zu entwickeln? Wo doch Traditionen bislang als ein – auch räumlich gebundenes – Kulturverständnis galten? Wir erleben die Auflösung der Geschichte, die an feste Grenzen gebunden ist.

Nur die Gestrigen suchen auch heute noch nach dem vermeintlich Ursprünglichen, nach Reinheiten – wo doch der Wesenskern von Kultur gerade in dem Miteinander, der Kommunikation, dem Austausch, der Interaktion besteht. Gerade der schulische Alltag ist durch Vielfalt – auch die Vielfalt der Herkünfte – geprägt; sei es der ersten, zweiten, dritten Generation. Migration heißt auch, in einen zunächst fremden Erinnerungsraum zu migrieren.

Wie aber kann es – bei aller Vielfalt – zu einer Ausbildung von Gemeinsamkeiten innerhalb der Vielfalt kommen? Wir brauchen eine transnationale Erinnerungskultur.[2] Erst ein gemeinsam entwickeltes Geschichtsbewusstsein schafft Kontaktflächen für Zugehörigkeit – neudeutsch: sharing is caring.

Und genau dafür braucht es einen Ort wie diesen, den wir heute „in Betrieb nehmen“: das Lern- und Gedenklabor zur NS-Zwangsarbeit in Rudow – als Dependance des Museums Neukölln – Fachbereich Museum | Stadtgeschichte | Erinnerungskultur.

 

Erinnerungskultur, Zukunftsgedächtnis und historische Ehrlichkeit

  • Landläufig wird von Erinnerungskultur gesprochen – so, als ob es sich beim Erinnern um einen einfachen, klar umrissenen Prozess handelt. Aber: Die Gedächtnisleistung ist ein durchaus selektiver Vorgang, der neben dem eigentlichen Erinnern auch mitunter das Verdrängen, das Vergessen – ja auch das Verleugnen beinhaltet.
  •      „Die Zukunft macht Vergangenheit erst verstehbar und motiviert Geschichtsbewusstsein.“[3] So formuliert es Harald Welzer – und er prägt dafür den Begriff: Zukunftsgedächtnis.
  •     „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, lautet ein Satz des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard.[4]
  •      Edmund Husserl geht noch einen Schritt weiter: „Mit Wirklichkeit haben wir es nur zu tun, insofern sie gemeinte, vorgestellte, angeschaute, begrifflich gedachte Wirklichkeit ist.“[5]

Diese Aussagen legen nahe, dass Erinnerung mitnichten etwas Unveränderliches darstellt oder gar als Konstante zu betrachten sei. Erinnerung ist vielmehr als etwas Prozesshaftes anzusehen, das keine transtemporale Gültigkeit besitzt. Darin liegt eine große Chance – gepaart allerdings auch mit einer enormen Verantwortung. Denn schließlich geht es darum – Harald Welzer spricht in diesem Zusammenhang von Verantwortungsdiffusion – nicht nur die Asche an die nächste Generation weiterzureichen, sondern die glühende Kohle des aktiven, zukunftsgewandten Erinnerns – im vollen Bewusstsein der historischen Zusammenhänge, und damit letztlich der historischen Ehrlichkeit.

 

Das Verlernen im Labor der Sinnstiftung

In Deutschland gibt es circa 300 Gedenkstätten im Kontext der NS- und Holocaust-Erinnerungskultur. Trotz allem steigt die Zahl der Straftaten mit einem rechtsextremistischen Hintergrund – 2022 waren es im Durchschnitt 57 Straftaten pro Tag.[6] Um ein erfolgreiches Lernen aus der Geschichte zu ermöglichen, bedarf es – das machen diese Zahlen mehr als deutlich – offensichtlich zunächst des Verlernens. Es liegt offensichtlich viel Arbeit vor uns.

Deshalb haben wir auch bewusst den Begriff des Labors geprägt – von lateinisch laborare = arbeiten. Denn für ein aufgeklärtes Lernen bedarf es – metaphorisch verstanden – eines vielfältigen Spracherwerbs:

  •        Es geht um die Sprache der Objekte, die hier vor Ort bei den archäologischen Ausgrabungen gefunden wurden.[7]
  •       Es geht um die Sprache der archivalischen Quellen, die Auskunft geben über die Lebens- und Leidenszusammenhänge der Menschen, die hier an diesem Ort während der NS-Zeit zur Zwangsarbeit gezwungen wurden.
  •       Und es geht – nicht zuletzt – um die Sprache der Zeitzeug:innen, deren Aussagen in Interviews und Briefen überliefert sind.
  • All diese Sprachen werden künftig in verschiedenen Modulen an die Schülerinnen und Schüler vermittelt – mit ihnen gemeinsam erarbeitet. Dies mit dem erklärten Ziel, die heranwachsende Generation in Bezug auf die Geschichte dieses Ortes sprechfähig zu machen – aufgeklärt, faktenbasiert und der historischen Ehrlichkeit verpflichtet.
  • Als besondere Herausforderung und zugleich Chance verstehen wir es, dabei nicht nur das Fach Geschichte im Blick zu haben, sondern wir werden auch ausgreifen in die Kunst, in die Musik.[8] Unser Ansatz ist multimodal – mit dem Lern- und Gedenklabor zielen wir auf alle Sinne, dies mit dem erklärten Ziel, ganzheitlich und wirklich sinnstiftend zu wirken. 
     

Die Brücke der Relevanz

Die Schülerinnen und Schüler werden nicht mit vorgefertigten Konzepten konfrontiert – ganz im Gegenteil. Ein für uns alle sehr bewegender Teil der konzeptionellen Vorbereitung beinhaltete auch die Zusammenarbeit mit der aktuellen Generation von Schülerinnen und Schülern der Klassen 7 bis 13. Wir haben die Schülerinnen und Schüler mit den Keywords der Aussagen der Zwangsarbeiter:innen konfrontiert – und sie gebeten, in Video-Statements zu diesen Themenfeldern Aussagen zu ihren eigenen Lebensumständen zu machen.

Damit gelingt es uns, eine Brücke der Relevanz zwischen der historischen Lebenswirklichkeit der Zwangsarbeiter:innen und der aktuellen Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler zu schlagen. Zudem wird an der Clay-Schule eine Geschichts-AG entwickelt, die sich – über die üblichen Stundenplan-Pflichten hinaus – für die Moderation des Lern- und Gedenklabors einsetzen wird.

 

Ein hybrider Lernort

Dieser Ort ist weder ein klassischer Schul-Ort noch ein klassischer Museums-Ort – das Lern- und Gedenklabor zur NS-Zwangsarbeit in Rudow ist ein hybrider Lernort, der nur in einem moderierten Zustand seine volle Vermittlungskapazität entfaltet. Die Betreuung und künftige konzeptionelle Fortentwicklung erfolgt in enger Partnerschaft zwischen der Clay-Schule und dem Fachbereich Museum | Stadtgeschichte | Erinnerungskultur. Die Nutzung des Lern- und Gedenklabors ist daher auch nur nach vorheriger Anmeldung möglich.[9]

 

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Das Kern-Team des Lern- und Gedenklabors des Museums Neukölln und der Clay-Schule
Foto © Clay-Schule / TGS

 

Nicht Schuld sondern Verantwortung – die Transformation

Mit unserem geschichtsdidaktischen Ansatz an der Grenzschicht zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen wir offensichtlich den Puls der Zeit: Der deutsche Beitrag auf der Biennale in Venedig „[…] widmet sich ausgehend von der Gegenwart alternativen Lesarten von Geschichte und Zukunft und entwirft Erfahrungsräume […].“[10] Ganz in diesem Sinne ist auch das Lern- und Gedenklabor ein wirklich außergewöhnlicher Ort an der Schnittstelle zwischen Museum, Schule und Denkmalpflege

Unzweifelhaft sind die heute lebenden Generationen nicht mehr von der Klärung der Frage nach der Schuld in Bezug auf die Gräueltaten der NS-Zeit betroffen – viel herausfordernder ist hingegen die Frage, wie und mit Hilfe welcher Konzepte die bleibende historische Schuld in ein zeitgenössisches und zugleich zukunftsgewandtes Verantwortungsbewusstsein transformiert werden kann. Dafür ist das Lern- und Gedenklabor zur NS-Zwangsarbeit in Rudow – an der Schnittstelle und in Partnerschaft zwischen Museum, Schule und Denkmalpflege der geeignete Ort.

 

#ErinnerungsLaborClayschule

Natürlich muss auch die erinnerungskulturelle Arbeit mit der Zeit gehen. Unter dem Hashtag #ErinnerungsLaborClayschule postet die bereits oben erwähnte Geschichts-AG der Clay-Schule auf INSTAGRAM regelmäßig historische Informationen zum Thema NS-Zwangsarbeit, berichtet über Projekte und die damit gesammelten Erfahrungen.[11]

 

Dank

Bleibt abschließend der Dank, den Personen, die in den vergangenen 10 Jahren mit ihrem Engagement und ihrem Wissen dafür gesorgt haben, dass aus einer Idee schließlich eine solche Einrichtung erwachsen konnte:

Frau Bährwanger-Kopp, Dr. Bernhard Bremberger, Sara Brand (geb. Sponholz), Julia Dilger, Brigitte Fischer, Dr. Udo Gößwald, Thorsten Gruschke-Schäfer, Silvia Haslauer, Philipp Hefke, Karin Korte, Michael Lorenz, Niels Plaumann, Lena Roob, Marisa Schulz, Lothar Semmel, Dr. Marcus Sonntag, Herr Sorattni (in alphabetischer Reihenfolge).


[2] Vgl. Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen. Campus Verlag 2008.

[3] Harald Welzer: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis. https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39868/erinnerungskultur-und-zukunftsgedaechtnis/ [aufgerufen am 10. Mai 2024]

[4] Søren Kierkegaard: Die Tagebücher 1834-1855, Auswahl und Übertragung von Theodor Haecker, 2 Bde., 1923. 1843. Welche Jahreszahl stimmt?

[5] Vgl. Edmund Hussel: Ideen zu einer reinen Phänomenologie Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. 1913, 1922 und 1928, 9-10 sowie: Edmund Hussel: Die Idee der Phänomenologie. https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-idee-der-phaenomenologie/10105 [aufgerufen am 10. Mai 2024]

[8] Bereits im Rahmen der Eröffnungsfeier haben drei Schüler der Clay-Schule mit Hilfe einer Sprach- und Klangperformance sehr eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie mit Hilfe der Musik Atmosphäre auch im historischen Kontext geschaffen werden kann.

[9] Den entsprechenden Link zur Anmeldung finden Sie unter „Öffnungszeiten“ auf dieser Website: https://schloss-gutshof-britz.de/museum-neukoelln/ausstellungen/LGL_Clay-Schule  [aufgerufen am 10. Mai 2024]