99 x Neukölln am Frauentag
Lisa Hirsch
wissenschaftliche Volontärin im Fachbereich Museum | Stadtgeschichte | Erinnerungskultur
Der Internationale Frauentag wird seit 100 Jahren gefeiert und zählt seit 2019 in Berlin zu den gesetzlichen Feiertagen. Ursprünglich protestierten Frauen an diesem Tag vor allem für die Erlangung ihres Wahlrechts. „Die Geburtsstunde des Frauenwahlrechts in Deutschland lässt sich auf den 12. November 1918 datieren, als nach dem Ende des Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs die Übergangsregierung in Berlin, der sogenannte Rat der Volksbeauftragten, in einem Aufruf ‚An das Deutsche Volk‘ eine neue demokratische Ordnung mit Meinungs- und Religionsfreiheit – und einem neuen Wahlrecht – verkündet.“[1]
Nach wie vor wird der Weltfrauentag dafür genutzt, um auf die noch immer in vielen Teilen der Gesellschaft vorhandene Ungleichstellung und -behandlung von Frauen und Männern öffentlich aufmerksam zu machen und für die Einhaltung der Menschenrechte zu kämpfen.
Ich habe mir diesen Tag zum Anlass genommen, in der Dauerausstellung des Museums Neukölln – „99 x Neukölln“ – nach Geschichten von Frauen zu suchen. Drei dieser Frauen möchte ich mit diesem Blogbeitrag näher vorstellen: Elsa Löwe, Ilse Bachmann und Margarete Kubicka.
Ehepaar Löwe: Elsa und Günther Löwe vor dem Standesamt Neukölln, Mai 1932,
Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann
Der Kissenbezug von Elsa Löwe
Etwa zur gleichen Zeit lernt Elsa auf einer öffentlichen Tanzveranstaltung Günther Löwe kennen. 1932 heiraten die beiden in Neukölln und Elsa hört nach der Heirat – getreu dem damaligen Rollenverständnis – auf zu arbeiten.[3] Das Paar wünscht sich ein Kind, doch mit dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze im Jahr 1935, nach denen Günther als „Mischling ersten Grades“ eingestuft wird, befürchten die beiden, dass ein gemeinsames Kind Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt wäre.
Kopfkissenbezug, 1944, Spende: Elsa Löwe, 1991, Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann
Als sie erfahren, dass einem Kind keine Verfolgung drohen würde, wird Elsa 1943 schwanger. Sie bereitet alles für das Kind vor, unter anderem bestickt sie einen Kissenbezug. Einen Teil der Schwangerschaft muss sie allerdings allein verbringen, da Günther 1944 in ein Arbeitslager bei Magdeburg deportiert wird. Er kann noch im selben Jahr fliehen und versteckt sich danach im eigenen Keller.
Bei Bombenangriffen sucht Elsa allein Schutz im nahe gelegenen Luftschutzkeller, wo sich dramatische Szenen abspielen; wegen ihrer Schwangerschaft darf sie sich in einem Sonderbereich für Mütter aufhalten, berichtet aber von Menschen, die durch Panik und Gedränge im öffentlichen Bereich ums Leben kommen.[4] Schließlich bringt sie im Juni 1944 im Keller der Charité ihren Sohn Joachim zur Welt. Er erkrankt jedoch kurz darauf an Gelbsucht und lebt nur wenige Tage.
Wie traumatisch dieses Erlebnis für Elsa war, zeigt sich daran, dass sie den Kissenbezug jahrzehntelang aufbewahrt. Sie selbst erzählt, dass sie ihn immer oben auf den Wäschestapel legt, um sich an ihren Sohn zu erinnern. Erst 1991, im Alter von 86 Jahren, schenkt Elsa den Bezug dem Museum Neukölln, wo er heute in der Dauerausstellung 99 x Neukölln zu sehen ist und damit zugleich das Schicksal dieser Familie repräsentiert.
Der Reisekoffer von Ilse Bachmann
Ilse Bachmann, Photographisches Atelier Kolliner, Wien, o. J., Foto: Museum Neukölln
Ilse Bachmann wird 1902 in Neukölln geboren, wo sie auch ihre Kindheit und Jugend verbringt. Im Jahr 1924 erhält sie ein Engagement an einem Theater in Frankfurt am Main und zieht dorthin. Zwischen 1928 und 1930 spielt sie in vier Filmen mit, unter anderem in der Verfilmung der Dreigroschenoper.
Anfang 1931 lernt Ilse den Filmkomponisten Richard Heymann kennen; die beiden heiraten noch im gleichen Jahr. Nach einer Auslandsreise im Jahr 1933 kehren die beiden in ein völlig verändertes Deutschland zurück: Richard hat aufgrund seiner jüdischen Abstammung seine Arbeit bei der Ufa verloren und schnell wird klar, dass das Paar in Deutschland keine Zukunft mehr haben wird.
Sie reisen über Paris nach Hollywood und gehören damit zu rund 1500 deutschen Filmschaffenden, die aufgrund der nationalsozialistischen Regierung nach Hollywood emigrieren. Nur den wenigsten Emigrant:innen gelingt jedoch eine erfolgreiche Karriere. Auch Ilse schafft es nicht, vor Ort Fuß zu fassen. So reist sie 1935 erneut nach Paris, wo sie als Fotomodell arbeitet und hofft, wieder eine Rolle bei einem ihr bekannten Regisseur zu ergattern – was ihr jedoch nicht gelingt. So reist sie unverrichteter Dinge wieder zurück nach Hollywood.
Erst 1938 erhält sie ein Engagement in einem Theaterstück; und obwohl dieses sehr erfolgreich ist, bleibt ihr der große Durchbruch am Theater verwehrt. Auch Richard findet nur schwer Arbeit. Die beiden entzweien sich und lassen sich schließlich 1940 scheiden. Im Jahr 1953 kehrt Ilse nach Berlin zurück, heiratet erneut und lebt für einige Zeit in Charlottenburg. Später zieht sie nach Frankfurt am Main, wo sie im November 1985 verstirbt. Ein alter Reisekoffer erinnert heute im Museum an einige Stationen ihres Lebens.
Reisekoffer, Ankauf: 1987, Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann
Das Schachbrett von Stanislaw und Margarete Kubicki
Margarete Schuster wird 1891 in eine bürgerliche Familie geboren. Schon früh wird sie mit der Armut anderer konfrontiert und begehrt gegen diese Ungerechtigkeit auf. Sie wird Sport- und Kunsterzieherin und setzt sich intensiv mit der Weltanschauung des Sozialismus auseinander.
1910 lernt sie an der Kunsthochschule Stanislaw Kubicki kennen. Gegen den Willen beider Familien heiraten die beiden 1916. Für Margarete bedeutet die Heirat zugleich den völligen Bruch mit ihrer Familie und damit auch den Verzicht auf eine finanzielle Absicherung durch das spätere Erbe.
Während Stanislaw als Soldat in Posen stationiert wird, bleibt Margarete in Berlin. Sie wird Mitglied des Spartakusbundes und später der KPD. Erst 1918 folgt sie Stanislaw für einige Zeit nach Posen. Doch schon ein Jahr später – zur Geburt ihres ersten Kindes – ziehen die beiden wieder nach Berlin. Zusammen mit anderen Künstlern gründen sie die Gruppe BUNT (deutsch: „Revolte“) und die Künstlervereinigung Kommune.[5]
Familie Kubicki im Garten in der Onkel-Bräsig-Straße, 1941;
es ist eines der letzten Fotos von Stanislaw Kubicki, Foto: Privatbesitz Stanislaw Karol Kubicki
Nach der Geburt des zweiten Kindes zieht die Familie in die Neuköllner Hufeisensiedlung – die hohe Miete können sie sich nur dank Margaretes Gehalt leisten. Hier verleben sie einige glückliche Jahre, bis Stanislaw 1934 aufgrund seiner Verbindungen nach Polen fliehen muss.
Margarete muss mehrere Hausdurchsuchungen der Gestapo über sich ergehen lassen und wird an eine Schule in Tempelhof strafversetzt. 1937 wird sie schließlich sogar zur Scheidung von Stanislaw gezwungen.
Stanislaw wird 1941 von der Gestapo verhaftet. Er stirbt ein Jahr später im Gefängnis. Margarete bleibt in Berlin, wo sie dem Widerstand nahesteht und als „entartet“ eingestufte Kunst und Literatur versteckt. 1943 verliert sie ihre Arbeitsstelle und wird ins Kriegsschädenamt versetzt. Dort wird sie nach Kriegsende von der sowjetischen Besatzungsmacht als Schulrätin für Rudow, Britz und Buckow eingesetzt. Ein Jahr später kehrt sie in den Schuldienst zurück, wo sie bis 1956 als Kunstlehrerin tätig ist. Nach dem Krieg wird sie auch wieder künstlerisch tätig, hält Vorträge und schreibt Aufsätze über Kunst.[6]
Sie stirbt 1984. Ein Schachbrett ihres Mannes erinnert heute in der Dauerausstellung an das Künstlerpaar. Im Jahr 2020 wird die Stadtteilbibliothek in Britz-Süd nach Margarete Kubicka benannt.
Schachbrett, um 1920, Leihgabe: Stanislaw Karol Kubicki, Foto: Museum Neukölln
Margarete Kubicka Bibliothek 2024, Foto: Museum Neukölln
[1] Deutscher Bundestag, Online-Dienste (Hrsg.). Der lange Weg zum Frauenwahlrecht. 2019. URL: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw47-frauenwahlrecht-669048.
[2] Vgl. Klages, Rita. Wer weiß denn noch was von meinem Leben? In: Erinnerungsstücke. Das Museum als soziales Gedächtnis. Udo Gößwald, Lutz Tamm (Hrsg.). 1991. S. 35.
[3] Transkript des Interviews mit Elsa Löwe von 1986.
[4] Vgl. Klages, Rita. Wer weiß denn noch was von meinem Leben? In: Erinnerungsstücke. Das Museum als soziales Gedächtnis. Udo Gößwald, Lutz Tamm (Hrsg.). 1991. S. 38.
[5] Vgl. Głuchowska, Lidia. Avantgarde und Liebe. Margarete und Stanislaw Kubicki. 1910 – 1945. 2007. S. 27–46.
[6] Vgl. Głuchowska, Lidia. Avantgarde und Liebe. Margarete und Stanislaw Kubicki. 1910 – 1945. 2007. S. 66–79.