Tassenfragmente

um 1920, Porzellan, bemalt, ca. 10 x 6 cm

Leihgabe: Staatliche Museen zu Berlin,

Museum für Vor- und Frühgeschichte

 

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Die beiden Fragmente einer Porzellantasse stammen aus dem ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager in der Köpenicker Str. 39-45 in Rudow.

2014 wird die letzte noch existente Baracke dieses Lagers abgerissen. Man schafft damit Platz für den Neubau der Clay-Schule. Bei den anschließenden archäologischen Ausgrabungen auf dem Gelände kommen etwa 1 000 archäologische Funde zutage. Unter den Fundstücken finden sich Fragmente von Koch- und Essbesteck, Kämme und Zahnbürsten. Daneben auch Fieberthermometer, Pillenröhrchen, ein Püppchen sowie Fragmente einer Tasse. Sie wurden von einer Person hinterlassen, die in der NS-Zeit im Barackenlager lebt und zur Arbeit in einem Betrieb der Arbeitsgemeinschaft Rudow (AG Rudow) gezwungen war. In Neukölln existierten 182 solcher Unterkünfte für Zwangsarbeiter:innen. Im dicht besiedelten Nord-Neukölln befinden sich die meisten davon. Hier werden Gaststätten, Hotels, Kinos oder Festsäle als sogenannte „Saallager“ genutzt. Barackenlager, wie das der AG Rudow, befinden sich am Rande der Stadt auf Freiflächen oder direkt auf dem Firmengelände.

Das Lager der AG Rudow wird zwischen Frühjahr 1941 und Sommer 1942 gebaut. Das Lager ist zunächst für die Unterbringung von etwa 1 000 Personen ausgelegt, zeitweise wohnen hier allerdings bis zu 2 000 Personen auf engstem Raum. Die größte Gruppe im Lager sind Pol:innen, gefolgt von sogenannten „Ostarbeiter:innen“ aus den Gebieten der Sowjetunion; in geringerer Zahl leben hier auch Zwangsarbeiter:innen aus Westeuropa.

 

Foto: Objektfoto Tassenfragmente (BU: Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte, Foto Claudia Klein)

 

 

Zwangsarbeit in Berlin

 

Bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges müssen Häftlinge aus Konzentrations-, Arbeits- und Umerziehungslagern Zwangsarbeit leisten. Während des Krieges wird so versucht, die Kriegs- und Rüstungsindustrie, besonders in den besetzen Ländern, aufrecht zu erhalten.

In Berlin werden zwischen 1939 und 1945 insgesamt eine halbe Millionen ausländische Zwangsarbeiter:innen zur Arbeit in der Rüstungsindustrie gezwungen. Sie werden vor allem in Groß-, aber auch Mittel- oder Kleinbetrieben eingesetzt. In Berlin gibt es mindestens 3 000 Unterkünfte, verteilt über das gesamte Stadtgebiet. Auch in privaten Haushalten wird Zwangsarbeit geleistet. Die Zwangsarbeiter:innen sind im Alltag bei ihren Tätigkeiten in den Betrieben und auf ihren Arbeitswegen für die deutsche Bevölkerung unübersehbar.

Auch im Kontext der Zwangsarbeit wird die Rassenideologie der Nationalsozialist:innen angewendet. Zwangsarbeiter:innen aus Westeuropa haben beispielsweise mehr Privilegien. Als „minderwertig“ betrachtete Gruppen wie „Ostarbeiter:innen“ und Polen, Jüd:innen, Sinti*zze und Roma*nja sterben unter den unmenschlichen Bedigungen am häufigsten beim Arbeitseinsatz.

 

Frauen in den Zwangsarbeitslagern

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Das Leben im Lager ist geprägt durch den beengten Lebensraum, schlechte Hygiene, kaum medizinische Versorgung und mangelhafte Ernährung. Insbesondere für Frauen ist die Lage katastrophal. Für Frauen aus Polen und der Sowjetunion gelten zudem nicht die üblichen Arbeits- und Mutterschutzbedingungen, sodass sie zu körperlicher Schwerstarbeit herangezogen werden können. Bis Ende 1942 erfolgt die Abschiebung schwangerer Arbeiterinnen in ihre Heimat. Danach finden Geburten in speziellen Entbindungsanstalten oder auch in normalen Krankenhäusern und in den Unterkunftslagern statt. Zwischen Januar 1943 und dem Kriegsende bekommen mindestens 23 Frauen aus dem Lager in Rudow Kinder.

 

Foto: Polnische Zwangsarbeiter:innen im Lager der AG Rudow, 1943, Foto: Sammlung Berliner Geschichtswerkstatt

 

 

Gedenken

 

Erst seit den 1980er-Jahren werden Zwangsarbeiter:innen als Opfergruppe der menschenverachtenden NS-Ideologie wahrgenommen. Nach Klagen vor US-Gerichten wird die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ im Jahr 2000 gegründet. Sie zahlt individuelle Einmalzahlungen in Höhe von bis zu 7.670,- EUR pro Person an noch lebende ehemalige Zwangsarbeiter:innen aus.

 

Auf dem Gelände des letzten erhaltenen Zwangsarbeitslagers in der Britzer Str. 5 in Schöneweide wird 2006 das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit eröffnet. Es ist einer der wenigen Orte, der das Schicksal der über 26 Millionen Zwangsarbeiter:innen sichtbar macht. In Neukölln wird in der Hufeisensiedlung und dem Hertzberg-Sportplatz durch einen Gedenkstein und eine Gedenktafel an die Geschichte der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen erinnert.

 

2023 eröffnet auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeitslagers die neue Clay-Schule für über 1 000 Schüler:innen. In die Schule integriert ist das Lern- und Gedenklabor des Museums Neukölln. Das hybride Klassenzimmer zeigt ein Original-Wandelement der Wirtschaftsbaracke

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und einen rekonstruierten Splitterschutzgraben. Gerahmt wird diese Rauminstallation durch Vitrinen, in denen die originalen Funde aus den archäologischen Ausgrabungen gezeigt werden. Im Lern- und Gedenklabor können sich die Schüler:innen anhand verschiedener Lernmodule mit dem Thema Zwangsarbeit im Nationalsozialismus am authentischen Ort auseinandersetzen.

 

Foto: Lern- und Gedenkorts im Eingangsbereich der Clay-Schule, Foto: Museum Neukölln / Dr. Matthias Henkel